Megatrend Nachhaltigkeit Der Verbraucher isst verantwortungsbewusst
Lebensmittel, die nicht im engsten Sinne nachhaltig erzeugt wurden, haben bei den bewussten Konsumenten der kommenden Jahrzehnte kaum noch eine Chance. Davon gehen Marktanalysten, Branchenteilnehmer und Trendforscher gleichermaßen aus.
Im Jahr 2046 sind die Zeiten des sorglosen Lebensmittelkonsums endgültig Geschichte. Davon ist Sabine Bingenheimer-Zimmermann, geschäftsführende Gesellschafterin von Regionique – Die Produktfabrik GmbH überzeugt. Die Konsumentinnen und Konsumenten werden also ganz genau auf die Transportkilometer, den CO2-Fußabdruck und generell darauf achten, dass Lebensmittel auf umweltschonende Weise produziert wurden. Die Gründerin des Start-ups, das sich auf wahrhaft regionale Produkte spezialisiert hat, sah diese Entwicklung kommen: Die Dinkel- und Haferflocken, das Birchermüsli, die Bandnudeln oder die Spätzle im Sortiment ihres Unternehmens stammen zu 100 Prozent aus Deutschland – von der Ernte bis hin zur Abpackung.
Schwarze Schafe werden abgestraft „Aus meiner Sicht wird der Trend zur ‚echten‘ Nachhaltigkeit in weniger als einem Jahrzehnt zum Standard. Konsumenten werden Händler und Hersteller abstrafen, wenn sie ihrer Verantwortung gegenüber den kommenden Generationen nicht gerecht werden und Produkte von den ‚Schwarzen Schafen‘ einfach nicht mehr kaufen“, erwartet Bingenheimer-Zimmermann. „Wenn ein Unternehmen den Puls der Zeit nicht erkennt und seine Produkte sowie die Prozesse nicht entsprechend anpasst, wird es verschwinden“, lautet ihre Prognose. Nicht nur Bingenheimer-Zimmermann, auch die Expertin für Ernährungstrends, Hanni Rützler, sagt in ihrem „Food Report 2021“ den Siegeszug der reinen Lehre der Regionalität voraus. Wahrhaft disruptiv könnte sich nach ihrer Einschätzung der Trend zu „Local Food“ oder Regionalität in Zukunft auf die Ernährungswirtschaft auswirken. Rützler sieht in der bewussten Stärkung regionaler Wertschöpfungsketten den Versuch, „klassische Handelsstrukturen grundlegend zu hinterfragen und neu zu denken“. Und nicht nur regionale Produkte werden in Zukunft vermehrt auf unseren Tellern landen: Im „Food Report 2022“ beschreibt Trendexpertin Rützler den Siegeszug von Bio-Lebensmitteln und vegetarischen Erzeugnissen. Auch die Marktanalysten von Mintel gehen davon aus, dass die Verbraucher von morgen zunehmend bewusst konsumieren und stolz darauf sein wollen, nachhaltig wirtschaftende Unternehmen zu unterstützen. Dazu zählen Lebensmittelproduzenten, die auf Tierwohl, Vermeidung von Plastikmüll durch pflanzenbasierte Verpackungen oder gleich auf vegane und vegetarische Ernährungsstile setzen.
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Individuell zugeschnitten Unterdessen wird die digitale Transformation nicht nur die Erzeugung von Lebensmitteln grundlegend verändern. Auch bei den gesundheits- und umweltbewussten Verbrauchern helfen Technologien und Datenanalysen dabei, ihre Ernährung individuell anzupassen. Das erwarten die Mintel-Analysten und rechnen damit, dass sogenannte Smart Diets in den kommenden Jahrzehnten zur Regel werden. Digitale Gadgets wie Fitness-Tracker oder Smartwatches machen eine individuell optimierte Ernährung möglich. Der Konsument von morgen werde daher zunehmend personalisierte Rezepte und individualisierte Ernährungspläne nutzen. Das Einkaufsverhalten wird durch die Auswertung personalisierter Daten bestimmt. Weiterentwickeln im Sinne des personalisierten Einkaufens werden sich auch E-Food-Angebote in den kommenden Jahren. In ihrer schlichten Form sind dies Online-Shops von Supermärkten. Durchaus vorstellbar ist, dass Algorithmen in den E-Food-Apps die Daten der Verbraucherinnen aus Smartwatches, Fitness-Trackern, Einkaufshistorien im Netz oder Social Media so auswerten, dass den Kunden nur die Produkte angezeigt werden, die zu ihrer körperlichen Verfassung und den sonstigen Konsumentscheidungen passen. Wer also auf gesunde Ernährung achtet und generell regionale Produkte kauft, bekommt in der E-Food-App seines Supermarktes künftig nur noch solche Erzeugnisse angezeigt. Das Nachsehen haben in diesem Szenario Anbieter von Lebensmitteln ohne nachhaltiges Profil.
Von: Stefanie Pionke
Prof. Nick Lin-Hi erforscht mitten im Schweinegürtel Deutschlands die Potenziale von Laborfleisch. Foto: privat
In-vitro-Fleisch als Mainstream
„Wir stehen am Beginn einer massiven Umwälzung der Agrarindustrie“
Zur Person: Prof. Dr. Nick Lin-Hi ist Inhaber der Professur für Wirtschaft und Ethik an der Universität Vechta. Der studierte Betriebswirt promovierte an der HHL Leipzig Graduate School of Management und war von 2009 bis 2015 Juniorprofessor für Corporate Social Responsibility (CSR) an der Universität Mannheim.
agrarzeitung: Welchen Marktanteil wird In-vitro-Fleisch in Deutschland und weltweit im Jahr 2046 haben? Prof. Nick Lin-Hi: Fleisch aus dem Labor dürfte in 25 Jahren der Standard sein und mehr als 60 Prozent Marktanteil haben. Daneben wird es noch pflanzenbasierte Fleischersatzprodukte geben und vielleicht noch irgendetwas, was wir heute noch gar nicht kennen. Konventionelles Fleisch, welches im Rahmen des Dreiklangs aus Aufzucht, Mästung und Schlachtung erzeugt wird, ist im Jahr 2046 ein Nischenprodukt – wenn überhaupt.
Welche Spieler werden den Markt für Laborfleisch in Deutschland: Sind es Fleischverarbeiter, die sich diversifizieren - oder doch eher Start-ups? Da die meisten Akteure der heutigen Fleischbranche noch kein ganz großes Engagement im Bereich In-vitro-Fleisch an den Tag legen, darf man damit rechnen, dass im Jahr 2046 eine Reihe neuer Unternehmen im Markt sein werden. Viele von diesen werden dann indes keine Start-ups mehr sein, sondern haben sich zu multinationalen Unternehmen entwickelt. Spiegelbildlich dazu werden viele der heutigen Unternehmen, darunter auch große Akteure, in 25 Jahren wohl nicht mehr existieren.
Welche Fleischprodukte aus dem Labor werden dem Verbraucher in 25 Jahren zur Verfügung stehen? Aktuell können mit der In-vitro-Technologie unstrukturierte Produkte hergestellt werden, also die Bratwurst, das Hamburger-Patty oder Chicken Nuggets. 25 Jahre sind in Zeiten des rasanten, sich beschleunigenden Fortschritts eine verdammt lange Zeit. Entsprechend stehen die Chancen gut, dass alle Fleischprodukte ohne Tierleid erzeugt werden können. Offen ist allerdings, wie genau die Produktion aussieht. Vielleicht kommt das Chateaubriand der Zukunft aus dem 3D-Drucker. Möglicherweise kann es auch unsere neue Küchenmaschine herstellen.
Wird In-vitro-Fleisch in 25 Jahren von der breiten Masse der Verbraucherinnen und Verbraucher akzeptiert werden? Die gesellschaftliche Relevanz von In-vitro-Fleisch resultiert aus dem hohen Nachhaltigkeitspotenzial. Indes werden die meisten Konsumierenden das Produkt nicht aus Nachhaltigkeitsgründen kaufen. Sie werden es kaufen, weil es billiger ist als konventionell erzeugtes Fleisch. Und das sollte schon weitaus früher als 2046 der Fall sein. Im Jahr 2046 wird man sich nur noch schwer vorstellen können, dass wir einmal Fleisch von echten Tieren gegessen haben.
Welche Rohstoffe werden für das Fleisch aus dem Labor jenseits der Zellkulturen benötigt und wer erzeugt diese? Auch Zellen wollen gefüttert werden, damit sie wachsen können. Idealerweise haben wir im Jahr 2046 eine Agrarindustrie in Deutschland, die effizient hochwertige Aminosäuren und Co bereitstellt. Da die In-vitro-Technologie die Schnittstelle für personalisierte Ernährung darstellt, könnten im Jahr 2046 die Ernährungs- und Gesundheitsindustrie bereits verschmolzen sein. Entsprechend sollten wir recht bunte und heterogene Lieferketten haben.
Welche Auswirkungen hat der Markt für In-vitro-Fleisch auf die Agrarstruktur weltweit und in Deutschland? Die In-vitro-Erzeugung von Fleisch – beziehungsweise allgemein die Erzeugung von tierischen Produkten im Labor – ist die größte Revolution in der Agrar- und Ernährungsindustrie seit einer Million Jahren. Sie steht auf der gleichen Stufe wie die Idee unserer Vorfahren, ihre Nahrung zu kochen. Wir stehen gerade am Beginn einer massiven Umwälzung der Industrie. Wir alle sind gut beraten, die Möglichkeit in Betracht zu sehen, dass das letzte Jahrzehnt der uns bekannten Landwirtschaft sowie ihrer vor- und nachgelagerten Industrien bereit angebrochen ist.
Interview: Stefanie Pionke